Wie schafft man es in Europa, aus dem Flachland im Zug auf fast 3500 Meter Höhe zu gelangen, ohne einen einzigen Schritt zu tun? Gar nicht. Aber man schafft es zumindest mit nur sehr wenigen Schritten, die man lediglich für das Umsteigen an Bahnhöfen benötigt.
Die Lösung heißt Jungfraujoch. Es liegt im Berner Oberland in der Schweiz und beherbergt den höchstgelegenen Bahnhof Europas. Eine Fahrt hinauf ist nicht exakt das, was man sich unter einer alpinen Herausforderung vorstellt, aber wenn man schon einmal in der Region ist – wie ich vor knapp einem Jahr – und eine ungefähre Vorstellung davon hat, welcher Ausblick sich da oben bietet, kann man eigentlich nicht anders als es selbst sehen zu müssen.
Wo auch immer man herkommt und ob mit Auto oder Zug, der Weg führt durch Interlaken (568 m), einem Städtchen zwischen Thuner und Brienzer See. Reist man mit dem Zug, wird man spätestens hier das erste Mal umsteigen müssen. Dafür kann man während der Wartezeit am Bahnhof schon einmal den ersten Blick auf das endgültige Ziel der Fahrt werfen.

Fast in der Kuhle auf dem Grat zwischen Jungfrau rechts und Mönch links sieht man hier schon die Aussichtsplattform des Jungfraujochs mit der Kuppel eines kleinen astronomischen Observatoriums auf einem Felssockel thronen, und man fragt sich: „Wie zur Hölle kann ein Zug da hoch kommen?“ – und was mag man wohl zur anderen Seite hin sehen?

Ging die Fahrt bis Interlaken noch recht gemächlich durch breite Täler des Schweizer Vorgebirgslandes bergan, so muss man bei der weiteren Fahrt mehr und mehr anerkennen, dass die Schweizer Ingenieurskunst, Eisenbahnlinien durch scheinbar unmögliches Gelände zu verlegen, hier ihren ganz großen Auftritt hat.
In Interlaken kann man sich für eine von zwei Routen weiter bergauf entscheiden: Entweder ist Grindelwald (1034 m) oder Lauterbrunnen (795 m) die nächste Zwischenstation, wobei etwa die erste Hälfte beider Abschnitte, nämlich die Strecke bis Zweilütschinen (660 m), identisch ist. (Tipp: Über Lauterbrunnen hochfahren und über Grindelwald runter, oder umgekehrt, dann hat man beide Aussichten von der Bahn aus, und Zeit und Kosten sind etwa die gleichen.) Sowohl in Grindelwald als auch in Lauterbrunnen muss man wieder den Zug wechseln, der nun „Wengernalpbahn“ heißt, denn jetzt beginnt es auf beiden Weiterfahrten ernsthaft steil zu werden und die Bahnen benötigen Unterstützung durch eine Zahnradmittelschiene. Grindelwald und Lauterbrunnen sind auch die definitiven Endstationen für eine Fahrt mit dem Auto. Ab da geht es nur noch mit dem Zug oder auf Fußpfaden weiter.
Die dritte Zwischenstation ist die Kleine Scheidegg (2061 m), die am Fuße von Eiger, Mönch und Jungfrau liegt und an der die Linie aus Grindelwald und die über Wengen (1274 m) führende Linie aus Lauterbrunnen wieder zusammentreffen.

Reisegruppen aus Japan und China oder Individualtouristen aus den USA in Europa zu sehen, ist ja sicherlich nichts Außergewöhnliches mehr, aber wo sieht man Familien aus Saudi-Arabien, Ägypten und Indien oder Jugendgruppen aus Vietnam auf Europareise? Die Kleine Scheidegg ist eine Hochalm, an der sich anscheinend die ganze Welt trifft, und alle stehen am Bahngleis für die letzte Teilstrecke hoch zum Jungfraujoch, der eigentlichen „Jungfraubahn“ – falls es nicht gerade regnet und der Himmel wolkenverhangen ist.

Von Interlaken bis zur Kleinen Scheidegg ist erst die Hälfte der gesamten Höhendifferenz von ca. 2900 Metern überwunden. Die letzten 1400 Höhenmeter übernimmt nun die Jungfraubahn. Diese Bahn ist schon seit 1912 in Betrieb, nachdem ihre Schienen in 16 Jahren Bauzeit über mehr als neun Kilometer verlegt wurden. Die Tatsache, dass es das Jungfraujoch als Top-Europa-Highlight anscheinend in die Kataloge der Reiseanbieter aus aller Welt geschafft hat, ist vor allem dieser Bahnstrecke und der wahrscheinlich gekonnten Vermarktung durch die Schweizer Tourismusorganisation zu verdanken.

Von den neun Kilometern gehen die ersten zwei bis zur Station „Eigergletscher“ (2320 m) noch durch offenes Gelände, bevor der Zug in einen durchgehenden Tunnel von über sieben Kilometer Länge einfährt, der mitten durch den Fels der beiden Bergriesen Eiger und Mönch verläuft, und ihn bis zur Bergstation auf 3454 Metern Höhe nicht mehr verlässt.
Erste Planungen im 19. Jahrhundert haben sogar vorgesehen, die Bahn nicht nur bis zum Jungfraujoch, sondern nochmal 700 Meter höher auf den Gipfel der Jungfrau zu führen, was aber später verworfen wurde.
Die Bahnlinie wurde von Anfang an als Schlüsselelement geplant, das Berner Oberland und seine Viertausendergipfelwelt dem Tourismus zugänglich zu machen, und hat sich als noch erfolgreicher als vorausberechnet herausgestellt. Die Bahn bewältigt heute eine Dreiviertelmillion Besucher pro Jahr und fährt im Halbstundentakt hinauf und hinunter. Sie ist alles andere als ein Bummelzug; die Züge sind unglaublich lang und fahren, zumindest gefühlt, in einem irren Tempo durch den Tunnel bergauf. Die Jungfraubahn hat ein eigenes Wasserkraftwerk im nahegelegenen Lütschental für die Stromversorgung und gewinnt einen Teil der investierten Energie für die Bergfahrt bei der Talfahrt zurück, indem die bergabfahrenden Züge praktisch nur rollen und dabei selbst Energie erzeugen. Rechnerisch bringen drei talfahrende Züge die Energie für einen bergauffahrenden Zug auf.
Auf der Fahrt durch den Tunnel sind zwei Zwischenstationen vorgesehen, von denen seit 2016 aber nur noch einer für einen Halt genutzt wird. An der Tunnelstation „Eigerwand“ (2864 m) fahren die Züge mittlerweile ohne Pause durch, was sehr schade ist, da an dieser Station Fensteröffnungen mitten in die legendäre Eiger-Nordwand geschlagen sind, durch die man über Grindelwald und weit in die umliegende Bergwelt nördlich von Eiger, Mönch und Jungfrau blicken kann. Es ist interessant zu lesen, was die Jungfraubahnbetreiber dazu bewogen hat, den früheren fünfminütigen Halt an diesen Fenstern aufzugeben: Kurz gesagt seien die straffen Reisepläne der Reiseveranstalter aus Fernost schuld daran, in denen diese zusätzlichen fünf Minuten keinen Platz mehr hatten. Insgesamt sei es überwiegender Kundenwunsch gewesen, möglichst schnell die Bergstation zu erreichen, und schnellere Triebwagen hätten nur zusammen mit dem Verzicht auf diese fünf Minuten Pause einen 90-Minuten-Umlauf eines Zuges ermöglicht, so dass ein Zug z.B. um 09:00 h hochfahren, nach Aus- und Einsteigen der Passagiere an der Bergstation um 09:43 h wieder runterfahren und dann nach erneutem Aus- und Einsteigen an der Talstation um 10:30 h den nächsten Rundlauf beginnen kann.
Wenigstens ist der zweite fünfminütige Stopp an der Tunnelstation „Eismeer“ (3158 m) erhalten geblieben.

Auch diese Station hat Fenster und in der kurzen Zeit geht es darum, hinauszustürmen und links um die Ecke zu laufen, um sich die Aussicht nicht entgehen zu lassen.

Die Fenster, die nicht gerade optimal für ein Foto sind, weisen diesmal in Richtung der Gletscher- und Bergwelt südlich von Eiger und Mönch mit den Gletscherbrüchen des Eismeers im Vordergrund und dem Schreckhorn (4078 m) als zentralem markantem Gipfel in der Mitte.

Die Fahrt endet im Tunnelbahnhof der Bergstation Jungfraujoch auf 3454 Metern Höhe.

Hier befindet man sich im Berg ein gutes Stück unterhalb der eigentlichen Aussichtsplattform.
Lange Gänge im Fels verbinden verschiedene multimediale Attraktionen, die, so hat man das Gefühl, vor allem die Besucher aus Fernost interessieren, was angesichts der kurzen Zeit, die ihren Reisegruppen oft nur zur Verfügung steht, nicht verwunderlich ist. Man könnte meinen, ihre Zeit ist so kurz, dass sie es nicht einmal bis zur Aussichtsplattform schaffen und gleich wieder runterfahren können.
Am sehenswertesten unter Tage ist vielleicht der „Eispalast“, eine große, künstlich in den Fels gehauene Halle, die ständig unter den Gefrierpunkt gekühlt wird. Verschiedene Formen und Figuren – eher kitschiger Natur – sind in dieser Halle gestaltet. Geländer sorgen dafür, dass man den Spaziergang durch diese Ausstellung aus Eis und den ebenfalls vereisten Weg dorthin ohne Sturz übersteht.

Auf weiteren unterirdischen Wegen und sogar über Rolltreppen gelangt man auch zu einer für meinen Geschmack geradezu bizarren Statue von Adolf Guyer-Zeller, dem Planer und Erbauer der Jungfraubahn, den man barfüßig und im bronzenen Gewand eines griechischen Gottes unter eine metallene Weltkuppel oder etwas in der Art gestellt hat, in einer Pose, die in großer Anspannung vielleicht etwas wie „Gleich haben wir es geschafft!“, den Moment vor dem letzten Durchbruch des großen Tunnels aus dem Fels, ausdrücken soll. Das Ganze ist schon auf den Gängen und der Rolltreppe zu dieser Installation von pompösen wagnerischen Opern-Ouvertüren-Klängen untermalt und mit einem farbenreichen Lichtspektakel in Szene gesetzt.

Irgendwann gelangt man dann endlich zu den zwei Aufzügen, die einen nach oben zur sog. „Sphinx“ bringen, wie die Aussichtsplattform auf der Felsspitze des Jungfraujochs geheimnisvoll getauft wurde.

In schneller Fahrt wird man mit diesen Fahrstühlen etwa 100 Meter nach oben befördert, wo die Ablenkung vom eigentlichen Highlight sich fortsetzt mit Souvenirshops, Restaurants der gehobenen und der Selbstbedienungsart, natürlich einem Geschäft mit Schweizer Uhren, in denen man auch Modelle für 35.000 Franken das Stück erwerben kann, und einem Geschäft des bekannten Schweizer Schokoladenfabrikanten Rindt – die chinesischen Gäste haben allerdings immer Probleme mit dem rollenden R -, in dem mit multimedialen Installationen und Videos über die Kunst der Schokoladenherstellung und -verarbeitung der Geldbeutel gelockert werden soll.
Es ist alles überflüssig, denn es geht auf dem Jungfraujoch eigentlich nur um eins: Einen Blick auf die andere Seite zu werfen!

Ich hatte bei meiner Ankunft oben gutes, aber nicht perfektes Wetter, denn die Wolkendecke verhüllte zunächst den Großen Aletschgletscher, der sich unter ihr verbirgt, was ein wenig enttäuschend war, auch wenn die wilde Wolkenbrandung in der Ferne am Himmel ihren eigenen Reiz hatte.

Dafür war die Aussicht zur einen Seite auf den Gipfel der Jungfrau (4158 m) wolkenfrei.


Und ebenso war zur anderen Seite die Sicht auf den Gipfel des Mönch (4107 m) fantastisch.
Der Eiger befindet sich vom Jungfraujoch aus gesehen hinter dem Mönch und wird von ihm verdeckt.
Nach Norden konnte ich über das Tal und über Grindelwald und die Kleine Scheidegg blicken, von der aus ich gekommen war. Aber die Aussicht in größere Entfernungen bis nach Interlaken oder noch weiter war von einer Wolkendecke verstellt.
Ein Weg durch die Tunnelkatakomben unter der Felsnadel der Sphinx führt nach draußen, wo auf den Schneefeldern des oberen Jungfraufirns, der weiter zum Aletschgletscher nach unten fließt, ein paar Rodel- und Skivergnügungen angeboten werden. Für die meisten Besucher in Turn- und Stöckelschuhen ist am Tunnelausgang allerdings Ende; ab hier geht es nur noch auf schneebedeckten Wegen weiter.
Meines Erachtens ist der beste kurze Abstecher, den man vom Jungfraujoch aus machen kann, eine kleine Wanderung zur Mönchsjochhütte (3657 m), die eine der höchstgelegenen Alpenhütten ist. Der Weg ist nicht weit und sieht harmlos aus, aber trotzdem sind die 30 bis 45 Minuten auf ständigem Schnee mühsamer als man denkt, befindet man sich doch in recht dünner Höhenluft, wo der Puls schon bei kleinen Anstrengungen merklich heftiger in die Höhe schnellt.

Von hier hat man Aussicht auf das Schreckhorn (4078 m, s. obiges Bild), den Grat zum Trugberg (3932 m) und das Ewigschneefeld, das wie der Jungfraufirn ebenfalls den Aletschgletscher mit Schneenachschub versorgt.

Während meiner kurzen Wanderung zur Mönchsjochhütte und von dort wieder zurück zum Jungfraujoch waren die Wolken nicht verschwunden, sondern eher dichter geworden. Aber sie waren gestiegen und das gab plötzlich den ersehnten Blick auf den Großen Aletschgletscher frei, den die Wolken vorher wie eine Bettdecke verhüllt hatten.

Der Aletschgletscher ist mit über 22 Kilometern Länge der größte Alpengletscher. Er beginnt am sog. Konkordiaplatz, an dem sich drei große Schneefirne vereinigen, die den Gletscher mit Schnee- und Eisnachschub versorgen. Man sieht den Konkordiaplatz im Bild oben etwa in der Mitte, wo rechts von Westen die Einmündung eines Firnfeldes, des Großen Aletschfirns, zu sehen ist. Im Vordergrund ist das zweite Firnfeld, der Jungfraufirn. Und das dritte Feld, das Ewigschneefeld, fließt links von Norden auf den Konkordiaplatz zu. Außerdem gibt es noch den von Osten kommenden kleineren Grüneggfirn, der den Konkordiaplatz zusätzlich nährt. Von da aus fließt der Aletschgletscher bergab in Richtung Süden, wo am Ende sein Schmelzwasser in die Rhone mündet.
Die beiden Mittelmoränen aus Geröll, die den Aletschgletscher wie die Spurlinien einer Autobahn über die ganze Länge begleiten, sind durch die Firnzuflüsse aus den drei Richtungen entstanden. Das Eis des Aletschfirns nimmt die rechte Spur, das des Jungfraufirns die mittlere, und das Eis des Ewigschneefelds und des Grüneggfirns die linke Spur.
Am Konkordiaplatz hat das Eis des Gletschers die enorme Dicke von über 900 Metern, von wo es mit ca. 180 Metern pro Jahr talwärts fließt. Ein Blick in den Abgrund einer Gletscherspalte dort muss furchteinflößend sein!
Mittlerweile war die Sicht auf die Jungfrau und die umliegenden Berge durch die aufsteigenden Wolken nicht mehr so gut und auch die Aussichtsplattform der Sphinx auf der Felsspitze des Jungfraujochs war in dichten Nebel gehüllt.

Aber das tat der Betriebsamkeit im Gebäude der Sphinx und in den Gängen unter Tage keinen Abbruch. Das Kommen und Gehen der Züge im Bahnhof Jungfraujoch kennt zwischen Morgen und spätem Nachmittag keine Pause.
Frühe Bergbeobachter aus dem 16. Jahrhundert hielten fest: „Die Jungfrau ist ein sehr hoher, von ewigem Schnee und Eis starrender Berg, daher völlig unzugänglich.“ Sie konnten nicht ahnen, wie sehr sie sich getäuscht hatten!