Zugegeben, als ich das Mer de Glace, das „Eismeer“, einen der großen Alpengletscher, der von den Gipfelregionen des Mont Blanc bis fast ins Tal von Chamonix hinabfließt, am Ende der Wanderung über den Grand Balcon Nord zum ersten Mal sah, dachte ich enttäuscht: „Was soll das denn sein?“
Wie eine graue Schotterautobahn, deren Mittelspur halbherzig mit etwas Puderschnee bestreut worden war, schlängelt sich das, was wohl einmal ein mächtiger Gletscher war, ins Tal hinunter. Als ob ein Riese einen großen Eislöffel einmal durch das Eis gezogen hatte, sieht das Tal aus, als wäre es einfach vom Eis geleert worden. Nach einem heißen Sommer sehen Talsperren so aus, wenn sich ihr Wasserspiegel gesenkt hat und plötzlich viele Meter unterhalb der Uferwege liegt.
Die grauen vegetationslosen Schotterhänge sind dabei selten ein schöner Anblick, und hier beim Mer de Glace ist es nicht anders.
Es muss schnell passiert sein, so schnell, dass die wenn auch hier in der Höhe spärliche, aber dennoch vorhandene Vegetation bisher noch keine Zeit hatte, die freigelegten Geröllhänge zu besiedeln. Die dadurch entstandene recht scharfe Grenze zwischen Grün und Nicht-Grün macht beinahe auf den ersten Blick deutlich, bis zu welcher Höhe der Gletscher bis vor Kurzem noch reichte.
Im Vergleich zum ebenfalls offensichtlich schrumpfenden Glacier d’Argentière macht das Mer de Glace hier im unteren Bereich noch einen weitaus bedenklicheren Eindruck.
Das Mer de Glace ist trotzdem auch heute noch der größte Gletscher Frankreichs und der viertgrößte der Alpen. Im engeren Sinn bezeichnet er zwar nur den unteren Teil – den Teil, den man auf den Bildern oben sieht -, aber als Mer de Glace wird im weiteren Sinn auch der nach Südosten abzweigende Glacier de Leschaux, der nach Süden und Südwesten verlaufende Glacier du Tacul, der Glacier du Géant im oberen Bereich direkt unterhalb des Mont-Blanc-Massivs und eine Reihe kleinerer Nebengletscher bezeichnet. Das ganze Gletschersystem hat eine Länge von 12 Kilometern und eine Dicke bis zu 420 Metern.
Als ich über den Grand Balcon Nord das Mer de Glace erreichte, war keine Zeit mehr, mich genauer umzusehen, daher bin ich an einem späteren Tag noch einmal zurückgekehrt. Das Wetter war nicht unbedingt besser, als ich ankam.
Aber es klarte im Laufe des Tages auf, wenn auch die Wolken nicht ganz verschwanden, und in einem seltenen Moment öffnete sich auch der Blick auf die berühmte Westwand der Aiguille du Dru – aufgrund des Doppelgipfels auch Les Drus genannt -, einer 1100 Meter hohen durchgehenden Steilwand, die wegen ihrer großen Schwierigkeit erst 1952 zum ersten Mal durchstiegen wurde. Ein paar Tage zuvor hatte ich die Drus schon von der anderen Seite von den Grands Montets aus gesehen.
Weit abgeschieden und nur durch eine lange Gletscherwanderung über das Mer de Glace und seine südöstliche Verlängerung, den Glacier de Leschaux, zugänglich, ist von der Bergstation Montenvers auch ein guter Blick auf die Nordwand der Grandes Jorasses auf der Grenze zwischen Frankreich und Italien möglich; mit einer Höhe von etwa 1200 Metern, ewigem Schatten und Vereisung ist sie neben Eiger-Nordwand und Matterhorn-Nordwand eine der drei großen Nordwände der Alpen, die von Bergsteigerlegenden umwoben sind. Vor knapp zwei Monaten wurde hier übrigens ein neuer kaum vorstellbarer Geschwindigkeitsrekord von wenig mehr als 2 Stunden für eine Solo-Durchsteigung der ganzen Wand aufgestellt, für die andere Kletterer 2 oder 3 Tage benötigen.
Das Mer de Glace ist leicht mit der Zahnradbahn Montenvers zu erreichen – auch Chemin de fer du Montenvers genannt -, die von Chamonix aus in gut 20 Minuten zur Bergstation an der Gletscherzunge fährt. Diese Zahnradbahn ist schon seit 1909 in Betrieb, nachdem schon früh die bequeme Erreichbarkeit dieses kleinen Berges und die Nähe zum Gletscher diesen Ort beliebt gemacht haben.
Nachdem sich der Gletscher schon zurückzuziehen begann, hat man 1960 eine kurze Kabinenseilbahn gebaut, die von der Bahnstation den Steilhang an der Seitenmoräne entlang zur Gletscherzunge führt – oder besser gesagt: Sie führte einmal bis zur Gletscherzunge, denn mittlerweile hat sich diese noch einmal deutlich gesenkt, so dass man von der unteren Seilbahnstation weiter zu Fuß über eine lange Treppe hinabsteigen muss.
Diese Treppe muss regelmäßig verlängert werden, da die Dicke der Gletscherzunge Jahr für Jahr abnimmt. Dieses Jahr – 2018 – waren es 500 Stufen, im Jahr davor waren es noch 440 Stufen.
Schon vom oberen Rand des Treppensystems aus sieht man deutlich, dass das scheinbare Schotterbett des Tals in Wirklichkeit nur eine Schicht aus Kieselsteinen ist, unter denen sich noch ein dicker Gletscher verbirgt. Das Geröll der freigelegten Hänge an beiden Seiten des Gletschers rutscht immer wieder talwärts und bedeckt den Gletscher im Laufe der Zeit mit einer Steinschicht.
Auch weiter talwärts kann man noch Eis unter dem Geröll erkennen.
Es ist nicht auszumachen, wo der Gletscher unter den Steinen tatsächlich endet, aber es ist etwa zwei Kilometer oberhalb des Talbodens von Chamonix, bis zu dem der Gletscher bei der Siedlung Les Bois früher reichte.
Am Beginn der Treppe hinunter zur Gletscherzunge ist ein Plakat angebracht, auf dem die verschiedenen Niveaus des Gletschers über die Jahre gegen ein Foto mit der Bergstation Montenvers im Hintergrund eingezeichnet sind.
Es wirkt eigentümlich unprofessionell, handgeschrieben, in einem schwer lesbaren Farbdesign, langsam verblassender Schrift und ohne Rahmen an eine Holzwand geschraubt, als ob es ein Einheimischer erstellt hätte, der die Nase voll hatte, den Touristen eine imposanten Gletscher vorzugaukeln und ihnen in einer Nacht- und Nebelaktion die Wahrheit vor Augen führen wollte.
Die Kernaussage des Plakats ist einfach: Die Höhe des Gletschers, der einst fast bis zur Bergstation der Zahnradbahn in 1914 Metern Höhe heranreichte, hat zwischen den Jahren 1825 und 2016 um 270 Meter abgenommen. Für die ersten 135 Meter dieser Schrumpfung brauchte das Klima 170 Jahre, für die zweiten 135 Meter sage und schreibe nur noch 21 Jahre!
Zwei Fotos neben dem Plakat, beide von exakt der gleichen Stelle an der unteren Seilbahnstation aus aufgenommen, vermitteln einen schockierenden Eindruck, was sich in nur 30 Jahren zwischen 1988 und 2018 verändert hat.
Natürlich hat man in Chamonix an der Talstation der Montenvers-Bahn kein Interesse daran, den Touristen schon dort anzukündigen, dass sie oben eventuell nicht das sehen werden, was sie erwarten – eine imposante Gletscherwelt aus Schnee und Eis. An der Bergstation ist es nicht mehr zu verheimlichen und man hat vorsichtig aus der Not eine Tugend gemacht, indem auf dem Weg von der Bahnstation bis zur unteren Station der Seilbahn – man kann die Strecke auch auf einem Serpentinenweg zu Fuß absolvieren – und dann auf der langen Treppe hinunter zur Gletscherzunge immer wieder Schilder aufgestellt wird, in welchem Jahr der Gletscher bis zum entsprechenden Punkt reichte. So wird der ganze Weg zu einem sehr plastisch erlebbarem Dokument des Klimawandels und eines Alpengletscherrückzugs, beginnend mit dem Jahr 1820…
…und weiteren Zwischenstationen der Jahre 1920, 1990, 2005 und 2015.
Auf dem Weg die Treppenstufen nach unten sieht man an vielen Stellen den Felsen zweifelsfrei an, dass hier einmal das Eis eines Gletschers seine wahrscheinlich jahrmillionenlange Schleifarbeit verrichtet hat.
Kleine Rillen im Fels weisen darauf hin, dass der Gletscher hier vermutlich einmal lose Kieselsteine über die Felswand geschoben hat. Sie verlaufen alle in Richtung der früheren Gletscherbewegung. Heute spült nur noch Regenwasser über den kahlen Fels, das in kleinen Bächen von den Bergen herunterläuft und in der Sonne für ein glitzerndes Schauspiel sorgt.
Der ganze untere Teil des Hangs, über den sich die Treppe hinabwindet, ist einmal vom Gletscher in sanfte Wellenformen geschliffen worden.
Der Hauptgrund, warum man sich eigentlich die Mühe macht, die 500 Treppen hinunterzusteigen, ist die Grotte de Glace, die Eisgrotte, die sich am Ende des Weges befindet.
Die Grotte ist zwar künstlich angelegt, aber sie befindet sich tatsächlich innerhalb des Gletschers, im Unterschied zum „Eispalast“ auf dem Jungfraujoch, der deutlich künstlicher wirkt.
Maschinen vor dem Eingang deuten an, dass man hier regelmäßig nachbessern und die Gänge durch die Höhle vermutlich nachfräsen muss.
Der obere Rand des Eishöhleneingangs ist mit weißen Tüchern abgedeckt, um die Sonne besser zu reflektieren und den natürlichen Schmelzvorgang zu verlangsamen. Dennoch tropft es im Inneren an allen Ecken und Enden. Aber es ist beeindruckend, man ist tatsächlich im Inneren des Mer de Glace, der auch hier unten unter all dem Geröll noch eine ausreichende Dicke hat, um diese Grotte möglich zu machen.
Natürlich fehlt auch der obligatorische Kitsch nicht: Eisbärskulpturen, vielleicht auch Pinguine, Bänke aus Eis – wer will wie lange darauf sitzen? – Podeste, und eine Bildergalerie, die alle als Hintergrund und Auskleidung für das Familienfoto oder Selfie dienen sollen. Zu lange will man sich nicht aufhalten, denn es ist – wenig überraschend – kalt hier.
Trotzdem ist es faszinierend, einfach gegen die Eiswände im Inneren zu starren und über die verschiedenen Strukturen und Farbnuancen aus Blau und Türkis zu staunen, die Druck, Bewegung und die Durchmischung von Wasser, Luft und Eis hier gebildet haben. Das Innere eines Gletschers scheint ganz und gar keine homogene Masse aus gefrorenem Wasser zu sein.
Die Ausdehnung des Mer de Glace über die Jahrhunderte ist detailliert untersucht worden und der Gletscher wurde schon früh und sehr oft in Zeichnungen und Gemälden festgehalten.
Zum Beispiel wurde das Mer de Glace mit den Grandes Jorasses im Hintergrund 1824 von Carl Gustav Carus mit einem wogenden Gletscher gemalt, so wie er damals tatsächlich zu sehen war.
Interessanterweise nahm sich Caspar David Friedrich im gleichen Jahr dieses Bild als Vorlage und ließ seine Fantasie etwas spielen, indem er sich vorstellte und auf die Leinwand brachte, wie das Tal wohl aussehen würde, wenn man den Gletscher einfach weglässt.
Es ist zu befürchten, dass die Wirklichkeit Friedrichs Fantasie in nicht allzu ferner Zukunft einholen könnte.
(Fotos vom September 2018)
Völlig krass die Fotos wie es einmal war und heute ist ! Unvorstellbar der Gletscherschwund !
LikeGefällt 1 Person
Ja, ich war auch geschockt, und es ist kein Ende des Gletscherrückgangs in Sicht! Ich war ganz neidisch auf die Leute, die vor 30 Jahren mal dort waren; damals muss es noch imposant gewesen sein. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Leute im 19. Jahrhundert unten im Tal Kreuze vor der Gletscherzunge aufgestellt und gebetet haben, dass der Gletscher nicht noch weiter vorrückt und ihre Häuser verschont!
LikeGefällt 1 Person