Wie viele Inseln hat auch Grenada eine Ringstraße, welche die beiden längeren Küsten – die karibische Westküste und die atlantische Ostküste – miteinander verbindet. Daneben gibt es nur noch zwei Straßen, welche die direktere Verbindung durch das Inselinnere herstellen: Zum einen die Straße über den Grand Etang Nationalpark, die von der Hauptstadt St. George’s nach Grenville an der Ostküste, dem zweitgrößten Ort Grenadas, führt, und zum anderen eine Straße vom weiter nördlich gelegenen Guyave an der Westküste, die ebenfalls in Grenville endet.
Guyave ist ein Fischerort, der unter anderem für seinen „Fish Friday“ bekannt ist. Ich wollte mir das Ereignis nicht entgehen lassen und war unterwegs von Grenville nach Guyave über die erwähnte direkte Verbindungsstraße über die Insel. Auf der Karte ist diese Straße im Stil einer verkehrstechnisch gewichtigen „Bundesstraße“ eingezeichnet. Die Realität ist, dass es eine kurvenreiche, teilweise durch die Berge verlaufende steile und vor allem so schmale Straße ist, dass zwei Autos kaum aneinander vorbei passen. Natürlich gibt es keine Straßenbeleuchtung und an der Straße liegen kaum Orte und nur sehr wenige einzelne Häuser, und wenn die Dunkelheit hereinbricht, wird es unangenehm, wenn man die Straße zum ersten Mal fährt. Wie üblich auf Grenada hat man auch mit Beschilderungen sehr gespart, so dass ich an einer Stelle in der Dunkelheit fragen musste, ob es geradeaus oder rechts ab nach Guyave geht.
Andrew war selbst zu Fuß zum Fish Friday unterwegs, so dass es die ideale Lösung war, ihn gleich mitzunehmen. Das half nicht nur für die Navigation an jeder noch folgenden Abzweigung, sondern er gab mir auch Tipps an Engpässen – im Wesentlichen „bloß nicht stehen bleiben, immer Gas geben!“ – und er kannte die geeigneten Parklücken in Guyave.

In Guyave treffen sich jeden Freitag Abend viele Einheimische und einige Touristen aus der Umgebung und werden mit frisch gefangenem Fisch, Meeresfrüchten, Gemüse, Gebackenem und Getränken von Mangosaft bis Rum verwöhnt. Zwei, drei Straßen im Ort sind dann gefüllt mit Ständen, in denen gebraten, gekocht, gedünstet, Musik gemacht und geplaudert wird.

Andrew ließ es sich nicht nehmen, mich bei einem abendlichen Verdauungsbummel durch seinen Heimatort zu führen. Besonders wichtig war ihm, mir das „Getto“ zu zeigen. Ob ich interessiert wäre? Was denn „Getto“ hieße, fragte ich. Da wären halt die ganz Armen, erwiderte er. Es war mir suspekt und ich antwortete, och nö, nicht wirklich. Wir gingen zum Hafen und zum Strand, und auf dem Rückweg nahm er eine andere Route, und die führte… durch das Getto. „Das ist das Getto!“, erläuterte er mit ausgebreiteten Armen als stünden wir vor dem Petersdom.
Während wir also durch die kleine Straße schlenderten, zeigte er links und rechts auf überquellende Mülltonnen, Schotterhaufen, bröckelnde Fassaden und Bretterhütten – entweder als wären wir in einer archäologischen Ausgrabungsstätte von unschätzbarem Wert oder um seine Geringschätzung der Getto-Zustände mit mir zu teilen. Auf den Treppen saßen Leute vor ihren Hütten und Andrew kannte sie offenbar alle und grüßte sie mit „Wess!“ mit langgezogenem zischendem „s“, ohne sich jedoch auf mehr Worte einzulassen. In seinem distanziert wirkenden Verhalten lag ein deutliches „Gut, dass ich nicht zu Euch gehöre!“, das sich am Ende der Getto-Straße, die wieder auf der Hauptstraße durch Guyave endete, bestätigte, als mich jemand um ein, zwei ostkaribische Dollar anbettelte und Andrew mich mit einem „No, no, no!“ und einer murmelnden Bemerkung „Betteln ist widerlich“ wegzog.
Dieser Getto-Besuch war recht bizarr und ich habe bis heute nicht richtig verstanden, warum ihm, der selbst gewiss nicht zu den Wohlhabenden gehörte, soviel daran lag, aber es mag einfach das Bedürfnis gewesen sein, mir ein Stück „authentisches“ Grenada abseits der Hauptattraktionen zu zeigen.
Eine dieser Hauptattraktionen – jedenfalls für die Menschen Grenadas – stammt aus Guyave, was mit einem großen Banner an einem der Gebäude der Hauptstraße unterstrichen wird. Es handelt sich um den berühmtesten Sportler Grenadas, den Leichtathleten Kirani James, der 2012 bei den Olympischen Spielen in London die Goldmedaille im 400m-Lauf gewann und damit die erste olympische Medaille für Grenada überhaupt.

„Wess!“, grüßte Andrew weiter alle Passanten auf dem Weg zurück zum Parkplatz. Was denn eigentlich „Wess“ hieße, wollte ich wissen. Es stünde für „Westerhall“ und für Kampf, nicht für Frieden, antwortete er, bevor er schnell das Thema wechselte. Ich verstand nichts – bis ich später ein wenig mehr über die amerikanische Invasion von 1983 gelesen hatte.

Eines der ganz wenigen noch sichtbaren Zeugnisse dieser Invasion liegt an der Ostküste, die man über jene Straße quer durch das grüne Inselinnere erreichen kann, über die ich auch nach Guyave gekommen war. Sie endet im zweitgrößten Ort Grenadas, Grenville, der sich durch einen irrsinnigen Verkehr auf der Küstenhauptstraße auszeichnet, die den Ort durchschneidet.


Am südlichen Ortsausgang von Grenville fällt die Old Church auf, eine katholische Kirche, deren Dach zwar auch von Hurrikan Ivan abgedeckt wurde, aber die sich schon viel länger in verfallenem Zustand befindet. Angeblich wurde sie schon Anfang des 20. Jahrhunderts aufgegeben, da sie damals von einem massiven Mosquito-Befall heimgesucht wurde. Restaurierungspläne gibt es seit 25 Jahren, aber man sagt, dass bewilligte EU-Gelder für das Projekt nie ihr Ziel erreicht haben und dass die Finanzbehörden heute noch in den Unterlagen suchen, wohin das Geld stattdessen gegangen sein könnte und ob es überhaupt je überwiesen wurde. In den Datenbanken der Finanzinstitutionen sei jedenfalls nichts nachzuweisen.
Etwas weiter nördlich von Grenville findet man dann den Pearls Airport, der bis 1984 Grenadas einziger Flughafen war, bevor er durch den heutigen Flughafen am Point Salines im Süden der Insel ersetzt wurde. Die Rollbahn wird heute gelegentlich als Go-Kart-Bahn genutzt – und ganz allgemein wird sie nach Lust und Laune als Abkürzung, Rennstrecke oder Zugang zu den am Rande weidenden Kühen und Ziegen befahren. Flugzeuge starten und landen hier jedenfalls nicht mehr.

Aber am Rande auf der Wiese liegen sie herum. Genaugenommen sind es zwei Flugzeuge, die seit über 35 Jahren an dieser Stelle liegen. Dass es in irgendeiner Form eine Gedenkstätte ist, kann man kaum erahnen, denn kein Schild weist darauf hin, und man muss einen Reiseführer oder historische Quellen lesen, um zu erfahren, dass es sich um Überbleibsel der amerikanischen Invasion von 1983 handelt. Ich bin mir nicht sicher, ob man sich beschweren würde, wenn jemand eines Tages einfach so auf die Idee käme, die Schrotthaufen wegzuräumen, aber ich ahne, sie sind eine Form von historischen Denkmälern, die durch Gewohnheitsrecht geschützt sind. Sie waren schon immer da und jetzt ist es zu spät und moralisch geradezu verboten, sie wieder loszuwerden.

Sieht man genauer hin, erkennt man auf der maroden Außenhaut der Flugzeuge so gerade noch Aufschriften wie „CCCP“, „AEROFLOT“ oder „CUBANA“. Es sind Flugzeuge russischer und kubanischer Herkunft, die während der Invasion beschädigt wurden und seitdem hier liegen.
Tatsächlich waren die Hinwendung Grenadas zu einer marxistischen Ideologie, wirtschaftliche Unterstützung durch Kuba und die Sowjetunion sowie schließlich der Bau des neuen größeren Flughafens, in dem einige der karibischen Nachbarländer Grenadas und die USA eine strategische Operationsbasis für den Aufbau eines zweiten Kuba zu wittern meinten, der Stein des Anstoßes für die Invasion von 1983.
Unter dem Namen Operation Urgent Fury begannen die USA und alliierte karibische Streitkräfte am 25. Oktober eine Invasion in Grenada mit dem Ziel, die pro-kubanisch/-sowjetische Regierung zu stürzen und durch eine westlich orientierte Partei zu ersetzen.
Die Operation, die innerhalb von vier Tagen bei deutlicher militärischer Überlegenheit und geringem Widerstand zum Erfolg führte, wurde von den meisten Mitgliedsstaaten der UN als Völkerrechtsverletzung heftig kritisiert. Margaret Thatcher äußerte sich Präsident Ronald Reagan gegenüber stinksauer, weniger weil es sich um eine Völkerrechtsverletzung handelte, sondern weil er es ihr hätte überlassen müssen, Grenada als schwarzes Schaf des britischen Commonwealth zurechtzuweisen.
Man findet Filmmaterial der Invasion, in dem amerikanische Soldaten erzählen, dass sie gar nicht so recht wüssten, warum sie auf Grenada seien, bis gestern keine Ahnung hatten, dass ein Land dieses Namens überhaupt existiert, geschweige denn, wo es liegt, und in dem die einheimische Bevölkerung sie recht freundlich mit Wasser und Früchten versorgt.
Die Militäroperation, an der auf grenadischer Seite übrigens auch 16 deutsche Soldaten der damaligen DDR als „sozialistischem Bruder“ beteiligt waren, endete mit etwa 70 Toten auf grenadischer und kubanischer und etwa 20 Toten auf amerikanischer Seite. Die Meinungen dazu sind in Grenada geteilt, neigen aber heute eher dazu, die Invasion als eine Befreiung von einer drohenden Einschränkung demokratischer Rechte und Wahlen anzuerkennen. Diese offizielle Meinung kommt auch darin zu Ausdruck, dass Thanksgiving als Nationalfeiertag auf Grenada auf den 25. Oktober, den Tag der Invasion, gelegt wurde.
Gleichzeitig wurde aber auch der heutige Flughafen am Point Salines 2009 in Maurice Bishop Airport umbenannt, als Erinnerung an den charismatischen Gründer der sozialistischen Partei New Jewel Movement, der Grenada 1983 auf den kuba- und sowjet-freundlichen Kurs führte, breite Zustimmung in der Bevölkerung genoss und wenige Tage vor der Invasion von radikaleren Kräften seiner eigenen Partei ermordet wurde. Tatsächlich war diese mit Maurice Bishops Ermordung einhergehende Radikalisierung einer der offiziell genannten Gründe für das Eingreifen der USA.
Vielleicht schlägt auch in Andrew und einigen seiner Mitbürger aus Guyave noch ein verstecktes sozialistisches Herz. Westerhall ist eine Halbinsel im Südosten Grenadas, auf der schon vor 1983 viele Anwesen von ausländischen Investoren gebaut und gekauft wurden. Das „Manifesto“ der New Jewel Movement forderte die Verstaatlichung aller ausländischen Hotels für den Aufbau einer Tourismus-Branche, die den Bürgern Grenadas und nicht internationalen Hotelkonzernen gehört. Westerhall ist ausdrücklich als ein Beispiel genannt. Wess!

Ganz in der Nähe des Pearls Airport befindet sich der Pearls Beach, der laut Reiseführer als einer der schönsten Strände gilt. Aber das muss einige Zeit zurückliegen, denn der Strand ist in einem sehr heruntergekommenen und ungepflegten Zustand.

Dabei stört weniger das Seegras, das vor allem an der Atlantikküste sehr verbreitet ist, als vielmehr Schutt- und Müllhaufen, die sich überall verteilt an der Küstenlinie finden.

Auf dem Weg die Ostküste entlang in Richtung Süden liegen hin und wieder verfallene Häuser, deren sich der Wald im Laufe der Zeit bemächtigt hat.

Ein weiterer der vielen Wasserfälle Grenadas befindet sich nur ein Stück von der Ostküste entfernt am Fuße eine Berges.

Ein kurzer Waldweg führt von der Straße leicht den Berg hinauf zu den Mount Carmel Waterfalls. Der Zugang zu dem Weg ist nicht leicht zu finden, da er nicht ausgeschildert ist, aber es sind immer Einheimische in der Nähe, die einem den Beginn des Pfades zeigen.

La Sagesse Beach ist tatsächlich einer der schönsten Strände Grenadas. Er liegt zwar an der wilden atlantischen Ostküste, ist aber in einer tief eingeschnittenen Bucht zwischen zwei bewaldeten Halbinseln vor dem heftigen Seegang geschützt.

Das Anwesen, das an diesem Strand liegt, wurde in den 60-er Jahren von einem englischen Lord, einem Cousin von Königin Elizabeth, gekauft. Der Lord machte sich auf Grenada äußerst unbeliebt, als er den Zugang zum Strand, der bei der einheimischen Bevölkerung ein populärer Badestrand war, für die Öffentlichkeit absperrte und ihn als seinen Privatstrand betrachtete.
1975 ging Maurice Bishops New Jewel Movement zusammen mit der Bevölkerung der benachbarten Dörfer gegen die Absperrungen vor, beseitigte sie und besetzte das Haus des Lords, der zu der Zeit abwesend war.
Heute ist La Sagesse wieder, wie alle karibischen Strände, für alle frei zugänglich und es ist dort wie überall an Grenadas Küsten wunderbar entspannt und ganz und gar nicht überfüllt. Trotzdem, und es scheint völlig überflüssig zu sein, sind ein oder zwei Leute der „Beach Security“ dort unterwegs und freuen sich, wenn schon kein Verbrechen für Abwechslung sorgt, ein paar Worte mit den eher seltenen Gästen aus anderen Ländern wechseln zu können – über die europäische Flüchtlingsfrage, die Kanzlerin und Borussia Dortmund. Satelliten-TV in der kleinen Strandbaracke der Security und viel Zeit bildet!

Ein Nachmittagsbad an diesem schönen Strand war mein letzter Stopp auf Grenada, bevor ich zum Flughafen weiterfuhr und mit einem Abendflug die Insel wechselte.
(Fotos vom Februar 2019)